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Stadtmission fordert Pflegereform
07.06.2019
BNN-Interview mit Dr. Michel vom 25.03.2019
Der Leiter der Karlsruher Stadtmission fordert Hilfe vom Staat bei der Pflegeversicherung
Karlsruhe. 370 Euro für Verpflegung, 450 für die Unterbringung und rund 700 Euro sogenannte Investitionskosten, hinzu kommen 1 100 Euro für die stationäre Pflege – jeden Monat. Ein Rechenbeispiel für den zu leistenden Eigenanteil im Pflegeheim aus Baden-Württemberg zeigt: Wer in Deutschland pflegebedürftig wird, muss viel Geld mitbringen. Die Kosten für die Versorgung steigen, und die Pflegeversicherung kann die finanzielle Last immer weniger auffangen. Forderungen nach einer Reform der Pflegefinanzierung werden immer lauter. Wie diese aussehen soll, darüber wird jedoch noch gestritten. BNN-Redaktionsmitglied Julia Trauden hat sich mit einem Experten in Sachen Pflege, Martin Michel von der Karlsruher Stadtmission, über Systemfehler in der Absicherung unterhalten.
Herr Michel, die soziale Pflegeversicherung hat 2018 mit einem Defizit von 3,5 Milliarden Euro abgeschlossen, gleichzeitig entstehen allein durch das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz bis 2022 Mehrkosten von rund 900 Millionen Euro. Wie kann die Versicherung die Versorgung der Bürger weiter gewährleisten?
Martin Michel: Ganz einfach: Indem Beiträge erhöht werden. Und zwar deutlich. Die Beitragserhöhung zum Jahresbeginn um 0,5 Prozentpunkte reicht bei weitem nicht aus. Außerdem braucht es staatliche Unterstützung. Es kann nicht sein, dass sich die meisten Menschen in Deutschland für den Fall, dass sie pflegebedürftig werden, nicht abgesichert fühlen – und dass viele sich auch gar nicht absichern können. Vergleicht man die Pflegeversicherung mit der Krankenversicherung, dann erkennt man eine absolute Ungerechtigkeit, einen Fehler im so besonderen deutschen System der sozialen Absicherung. In die Krankenversicherung und im Übrigen auch in die Rentenversicherung fließen jedes Jahr Milliarden vom Staat. Wer krank wird, der muss sich in der Regel keine Sorgen machen, dass er die Leistungen, die er benötigt, selbst bezahlen muss. Das sollte auch bei der Pflegebedürftigkeit der Fall sein. Der Staat hat in der vergangenen Jahren riesige Steuerüberschüsse erwirtschaftet, es ist also genug Geld da.
Die Forderung nach Steuerzuschüssen für die Pflegeversicherung wird schon länger heiß debattiert – Gesundheitsminister Spahn stellt sich bislang aber dagegen. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die staatlichen Hilfen am Ende kommen?
Michel: Wir sind gerade dabei, mit der ambulanten und stationären Pflege eine „Pressure Group“ aufzubauen, die zunehmend Druck auf die Politik ausübt. Natürlich gibt es auch andere „Pressure Groups“, den Verteilungskampf erleben wir ja ständig. Wenn man sich allerdings die Statistiken zum Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen und zur Weiterentwicklung des Mangels an Pflegekräften anschaut, dann sollte klar sein, dass etwas getan werden muss. Wir müssen uns wieder auf die existenzsichernden Dinge fokussieren. Dass die Pflege auf Bundesebene gerade ein Riesenthema ist, ist in dieser Hinsicht ein gutes Zeichen.
In der Debatte um die Pflege geht es auch um die Verbesserung der Versorgung – und diese bedeutet enorme zusätzliche Kosten. Gleichzeitig soll die finanzielle Belastung für Pflegebedürftige gesenkt werden. Wie kann das funktionieren?
Michel: Alle Verbesserungen, die wir bisher hatten, und über die wir sehr froh und dankbar sind, erhöhen den Preis unterm Strich. Aber es kann nicht sein, dass Pflegebedürftige mehr zahlen, wenn zusätzliche Leistungen anerkannt werden. Das passiert auch keinem Krankenversicherten. Meiner Einschätzung nach muss man den Eigenanteil, den Heimbewohner oder ihre Angehörigen zahlen müssen, auf 800 bis 900 Euro begrenzen. In Baden-Württemberg liegt er im Schnitt bei deutlich über 2 000 Euro. Die Solidargemeinschaft, auf der unser Versicherungssystem ja fußt, muss dafür sorgen, dass die Versorgung finanzierbar ist.
Sie sprachen vorhin von einem Systemfehler. Hätte man bei der Einführung der Pflegeversicherung 1995 bereits absehen können, dass das System so langfristig nicht funktionieren würde?
Michel: Das ist schwierig zu beantworten. Ein grundlegender Systemfehler war auf jeden Fall die Entscheidung für die Objektfinanzierung gegenüber der Subjektfinanzierung. Das bedeutet, dass die Finanzierung auf die Pflegeeinrichtung als Ganzes und nicht auf den einzelnen Pflegebedürftigen zurechtgeschnitten ist. Damit nahm man den Bürgern etwa die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, welchen Pflegeplatz und welche Leistungen sie wahrnehmen wollen – und was sie vielleicht auch nicht brauchen. Heute entscheidet bei der Beantragung von Pflegeleistungen der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) über den Pflegegrad und die damit einhergehenden erforderlichen Leistungen. Der MDK kostet Hunderte Millionen im Jahr – und nimmt uns übrigens das Kranken- und Pflegepersonal weg. Wir hätten diesen ganzen bürokratischen Irrsinn nicht gebraucht.
Zur Person
Martin Michel, 63, ist seit 2012 Chef der Karlsruher Stadtmission. Unter der Leitung des Pfarrers und ehemaligen Lehrbeauftragten für Soziale Sicherungssysteme (Uni Heidelberg) kümmern sich rund 650 Mitarbeiter täglich um rund 1 000 Pflegebedürftige. Die Stadtmission verfügt über 400 Plätze im stationären und teilstationären Bereich, im ambulanten Dienst werden rund 400 Menschen betreut. Zusätzlich gibt es Plätze für psychisch Erkrankte und Schwerstbehinderte.